• Kultur
  • Utopie statt Depression

Wenn Frauen an den Strand gespült werden

Nicht autofiktional, aber literarisch und klassenkämpferisch: »Mirmar« von Josefine Soppa

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Annie Ernaux im letzten Jahr den Literaturnobelpreis erhielt, war der vorerst letzte Höhepunkt einer literarischen Bewegung erreicht, die sich bereits seit einigen Jahren der Erkundung des sozioökonomischen Prekariats verschreibt. Während sich das Thema hierzulande nur allmählich durchsetzt, ist es in Frankreich längst ein Mehrgenerationenprojekt. Didier Eribons Bericht »Rückkehr nach Reims«, in dem der Soziologe der eigenen Herkunft in der strukturschwachen und intellektuellenfeindlichen Provinz nachsann, erreichte hierzulande Bestsellerstatus. Die Memoirs von Eribons einstigem Studenten Édouard Louis bezeugen, dass sich auch zwanzig Jahre später nicht viel geändert hat am Elend einer Schicht, die als sozial Schwache bezeichnen mag, wer das Wort Arme für nicht mehr zeitgemäß hält.

Das Leben fällt hier mit dem Leiden in eins, und zwar auf umso unbarmherzigere Weise, als das Elend nicht einfach erfunden, sondern mit der Existenz der Autorinnen und Autoren verbürgt wird. So etwas wie politische Wahrhaftigkeit, also eine Präzision in der Aufdeckung sozialer Ungerechtigkeit, weicht hier allzu häufig dem Streben nach Authentizität und biografischer Nachvollziehbarkeit. Dem umfangreichen Ensemble an Formen und Stilen, mit der Belletristik die Machtverhältnisse nicht nur oberflächlich beschreiben, sondern auch bloßstellen kann, erteilt die Autofiktion eine Absage. Eine Art Dünkel von unten wirkt hier, als wäre jeder Kunstgriff bereits Ausweis einer Rhetorik der Mächtigen und Saturierten.

Es ist somit beeindruckend, wie entschieden und selbstbewusst sich die Autorin Josefine Soppa in ihrem ersten Roman von diesen Konventionen distanziert, während sie zugleich in großer Deutlichkeit Klasse und Ausbeutung thematisiert. Soppa, geboren 1988 in Oberhausen und heute wohnhaft in Leipzig, studierte Philosophie der Künste und Medien in Dresden und Hildesheim. 2020 erhielt sie den Prosapreis des »open mike«.

In ihrem Debüt »Mirmar« erzählt sie die Geschichte zweier Frauen, Mutter und Tochter, die sich mit allerlei Jobs im Dienstleistungssektor über Wasser halten: als Hostessen, Reinigungskräfte, Promoterinnen, Masseurinnen und Klickarbeiterinnen. Um Geld zu sparen, vermieten sie meist eine ihrer beiden kleinen Wohnungen unter und leben gemeinsam in einem Zimmer. Doch allen Doppelschichten und allen Rückenschmerzen zum Trotz, reicht das Geld nie, immer droht die nächste Mietzahlung oder ein Brief vom Amt. Und das umso mehr, als die Mutter wegen ihres Alters bald aus dem System fällt und keine Jobs mehr angeboten bekommt.

Willkommen im Plattformkapitalismus! Doch Soppa schildert nicht nur das Leben in schwierigen Verhältnissen. Ihr Roman formuliert außerdem ein alternatives Angebot für das ökonomische Dilemma der Figuren und nimmt dabei seine literarischen Mittel maximal ernst. Soppa wiederholt nicht, wie die Verfechter der Autofiktion, den Niedergang einer Arbeiterinnenbiografie, lässt ihre Protagonisten nicht, wie von den Gesetzten des Marktes vorgesehen, an ihren Gebrechen, am ökonomischen Druck und fehlender Solidarität zugrunde gehen. Nein, sie hat Interessanteres vor mit ihren Figuren: Sie lässt sie verschwinden.

Auf einmal ist die Mutter weg. Lediglich Spuren finden sich noch von ihr und anderen Frauen ihrer Klasse. Es gibt Gerüchte, es wird gemunkelt in ungemütlichen Pausenzimmern und entlegenen Orten des Internets. Es heißt, sie könnten sich davongestohlen haben aus einem System, dem doch nach aller Wahrscheinlichkeit niemand entfliehen kann. Tatsächlich ist kein anderes Land und keine andere Ökonomie hier der Zufluchtsort, sondern nicht weniger als eine ganz neue Welt.

An einem Strand bilden ausgebeutete Frauen ein solidarisches Kollektiv. Erstmals müssen sie nicht mehr arbeiten. Das Wenige, was sie benötigen, Obdach und Nahrung, fällt ihnen einfach in den Schoß. Nun können sie endlich ihre Energie auf die Knüpfung neuer Beziehungen verwenden, auf Zärtlichkeit und all jene Gefühle, die bislang vor allem Hindernisse waren für die freie Zirkulation ihrer Arbeitskraft. Nicht nur die Regeln des Marktes sind an diesem Küstenort verabschiedet, auch Männer spielen keine Rolle mehr.

Die große Differenz zur Realität drückt auch hier die Unmöglichkeit aus, in den Grenzen der tatsächlich bestehenden Ordnung seinen Platz und sein Auskommen zu finden. Wenn die Frauen also an diesen Strand gespült werden, wenn ihnen, wie von Zauberhand, eine ganz neue Weise zu existieren gewiesen wird, dann wohl auch deshalb, weil sie in ihren eigentlichen Leben keinerlei Macht zur Veränderung hatten.

Literatur ist bei Soppa also selbst, aufgrund ihrer Formentscheidung, politisch. Ihre Prosa erschöpft sich nicht darin, eine gesellschaftlich relevante Geschichte zu erzählen, sondern will zumindest in ihrem Medium eine Alternative zu den herrschenden Verhältnissen weisen. Dieser Roman ist zugleich ein Statement. Er kritisiert die Notwendigkeit seiner selbst. In einer Gesellschaft, in der es erforderlich ist, ein solches Buch zu schreiben, ein solches Paradies zu erfinden, kann mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmen, muss sie der Hölle gleichen.

Josefine Soppa: Mirmar. Aufbau. 224 S., geb., 22 €.

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